Skandale und Innovation
Jean Cocteau beschrieb die Vorkommnisse des 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées, Paris, wie folgt:
"… der Saal spielte die Rolle, die er spielen musste: er revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus. Mit schief gerutschtem Diadem in ihrer Loge stehend, schwang die alte Comtesse de Pourtalès ihren Fächer und schrie mit hochrotem Gesicht: 'Zum ersten Mal seit 60 Jahren wagt man es, sich über mich lustig zu machen!' Die gute Dame meinte es aufrichtig; sie glaubte an eine Fopperei."
Die Uraufführung des Balletts «Sacre du Printemps» von Igor Strawinsky war einer der grössten Skandale der Musikgeschichte. Die Musik war wegen der Tumulte kaum zu hören und das war schwierig für die Tänzer. Hinter dem Theatervorhang versuchte der Choreograph verzweifelt, den Tänzern den Rhythmus zuzubrüllen. Die Saallichter mussten aus Sicherheitsgründen angemacht werden. Am Ende der Veranstaltung registrierte die Polizei 27 Verletzte, das war noch bevor es am nächsten Tag noch zu einem Duell kam.
Dabei schien alles dafür zu sprechen, dass es ein Erfolg werden würde. In den Jahren zuvor hatten der Komponist Strawinsky und der Ballettdirektor Sergei Djagilew mit «Feuervogel» und Petruschka bereits grosse Erfolge in Paris gefeiert.
* Regeln brechen
Das Publikum erwartete vermutlich wieder einen gemütlichen Abend mit exotischen Impressionen – orientalische Themen waren um die Jahrhunderte ziemlich in. Doch das Sacre war anders, mit diesem Stück brach Strawinsky so ziemlich alle bestehenden Regeln.
Es geht um ein Frühlingsritual im vorchristlichen Russland. Um die Kräfte der Natur für die Gemeinschaft günstig zu stimmen, wird das Leben einer jungen Frau geopfert. Die Musik dazu ist archaisch, polyfon und polyrhythmisch. Die Tänzer tanzten nicht in fluffigen Röckchen, sondern in groben Leinenkleidern. Es gab keinen klaren Rhythmus, keine Erzählgeschichte, keinen Prinzen, keine Fee und definitiv kein Happy End.
* Innovation macht verletzlich.
Der Skandal machte den 31-jährigen Igor Strawinsky zwar berühmt. Doch einfach wegstecken konnte er ihn nicht. Ein paar Tage nach der Uraufführung wurde er krank, bekam er Fieber und musste sechs Wochen lang ins Krankenhaus.
Brene Brown, die bekannte amerikanische Soziologin würde das wohl als "Vulnerability Hangover" beschreiben, einen Verletzlichkeits-Kater. Die meisten von uns kennen ihn schon für viel, viel kleinere Regelbrüchen. («Was habe ich da nur gesagt, gemacht, getan…?»)
* Innovation polarisiert
Es gibt Menschen, die das Neue stürmisch begrüssen, weil endlich jemand ausdrücken kann, was in ihnen schlummert. Und es gibt Menschen, die das Neue ebenso vehement ablehnen aus Angst, dass vertraute Sicherheit und Kontrolle verloren gehen.
* Doch was erst ein Skandal ist, wird ein bisschen später zum neuen Standard
Heute gilt das Sacre als ein Schlüsselwerk der Neuen Musik. Und eigentlich war schon die erste konzertante Aufführung des Sacre ein Jahr später ein riesiger Erfolg. Was war notwendig, dass das möglich war?
Dazwischen fand ein Lernprozess statt, eine Öffnung für neue Möglichkeiten, gewohnte Vorstellungen und Erwartungen konnten hinterfragt werden.
* Jede Epoche hatte ihre Vorreiter – ihre Avantgarde.
In der Kunst, in der Politik, in der Wissenschaft. Menschen, die neue Perspektiven gesucht und gefunden haben. Nach den ersten Wogen werden diese revolutionären Impulse oft in das bestehende Wertesystem integriert. Die Liste der Menschen, die erst mal Entrüstung ausgelöst haben und dann zu neuen Leitfiguren der Gesellschaft wurden, ist lange. Hier sind ein paar bekannte Vertreter:
- Elvis Presleys Hüftschwung war zu sexy war für die Moralhüter seiner Zeit. Die bekamen bei seiner Musik Angst um die Unschuld ihrer Töchter.
- Vivienne Westwood begann mit Mode für Punkrock-Bands, bevor sie mit Giorgio Armani zusammenarbeitete und Lehraufträge für Design übernahm.
- Die Band Queen war für Rockmusikfans und Plattenlabels erst mal viel zu nah dran an der Oper.
- Ram Dass alias Richard Alpert war ein Professor für Psychologie. Er musste Harvard verlassen, weil er Studien zur Wirkung von LSD machte. Er wurde einer der bekanntesten spirituellen Lehrer unserer Zeit - es gibt einen Film über seine Arbeit auf Netflix.
* Wenn du eigene Wege gehen willst mit deinem Business, wenn du alte Vorstellungen über Erfolg, Wahrheit, Macht infrage stellst, wirst du deinen inneren Sicherheitssystemen begegnen. Das zeigt sich in innerem Nebel und Verzettelung.
Unser autonomes Nervensystem ist darauf spezialisiert, uns in Sicherheit zu halten. Wenn wir "gefährliche" Ideen haben, wird unser autonomes Nervensystem auf diese Gefahr reagieren. Unser innerer Kritiker kommt auf die Bühne. Unser klares Denken geht verloren. Wir sehen uns bereits unter der Brücke enden. Ohne Erfahrung können wir nicht erkennen, dass wir gerade unter dem Einfluss von Adrenalin stehen und unser System im Überlebensmodus ist. Wir interpretieren die Erfahrung als: "ich bin noch nicht gut genug» und falten uns mit unseren Selbstzweifeln wieder zusammen. Damit ist die Mission des autonomen Nervensystems erst mal erfüllt.
In unseren Körpern lebt eine Menge Geschichte und kollektives Trauma. Nicht nur aus unserer Kindheit, mit Erziehungssystemen, die auf Gehorsamkeit und Unterordnung beruhen. Auch aus unserer kollektiven Geschichte. Denn es gab auch Zeiten, in denen das Infragestellen bestehender Paradigmen einen weit höheren Preis hatte als einen Tumult im Theater. Die Kirche hat alternative Vorstellungen über Kunst, Heilen, Sexualität, Moral lange zensiert, korrigiert und bestraft. Das gleiche gilt auch für autoritäre politische Systeme. Dabei braucht es nicht zwingend körperliche Gewalt. Moral in Verbindung mit Scham sind machtvolle Werkzeuge der Kontrolle.
* Innovation führt uns in einen Ablösungs-Prozess
Viele von uns sind müde von unserer rastlosen Leistungsgesellschaft, von Manipulation, sinnlosem Konsum, von künstlichem Mangel, von gnadenlosem Marketing. Viele von uns wollen mit ihrer Arbeit einen Beitrag leisten zu einer nachhaltigeren Welt. Und das bedeutet, dass wir mit unseren Business Ideen einen Regelbruch zu den gängigen Vorstellungen von Erfolg und Performance begehen müssen.
Dich an den Ort deiner Freude zu wagen, löst einen meist nicht erwarteten Ablösungs-Prozess aus. Von wem erwarten wir Anerkennung und ist das der richtige Ort sie dort zu suchen?
«Welche Welt will ich mit meiner Arbeit unterstützen?"
"Wer sind meine Gleichgesinnten und für wen sind meine Ideen wichtig? »
... sind Frage, die uns dabei helfen, unsere Ideen auf den Punkt und in die Welt zu bringen.
* Innovation und Neuerfindung funktionieren besser mit Verbündeten
Die meisten Vordenker hatten Verbündete, Buddies und Gemeinschaften. Vor allem in der Zeit, in der sie sich von den bestehenden Vorstellungen gelöst und ihre eigenen Methoden und Wege entwickelt haben. Menschen, mit denen sie ihre Ideen diskutieren und auf den Punkt bringen können. Menschen, die sie unterstützt haben, Neues zu wagen. Buddies bringen uns nicht nur ein Übungsfeld, Reflexion und Ermutigung. Sie helfen unserem autonomen Nervensystem mit Co-Regulation. Das heisst, wir helfen einander, nicht im inneren Nebel verloren zu gehen. Wir helfen einander, mutige Ideen verkörpern zu können. Denn wir alle haben zwei Kräfte in uns, welche in verschiedene Richtungen ziehen:
- der einfachere Weg des Gehorsams, des Zurücknehmens unserer Energie, der erlernten Verwirrung
- und das Bedürfnis, die Dinge zu sagen und zu teilen, für die du auf die Erde gekommen bist.
* Genialität ist nie gehorsam
In der Coaching-Szene wird oft von Genie-Zone gesprochen. Der Ort, an dem wir besser sind als alle anderen. Ein Ort, in unserem Element und Flow sind. Ich möchte das Thema neu definieren. Denn besser sein müssen lädt dazu ein, das Thema aus Angst und Vergleichen heraus anzupacken, und das führt erst mal zu Gehorsam. Doch echte Genialität beginnt da, wo wir nicht mehr funktionieren, sondern unserer eigenen Wahrnehmung vertrauen und unserer Energie folgen können.
Geniezone ist die Zone, in der wir frei, tabulos denken können. Es ist die Zone, in der wir stärker geworden sind als unser innerer Kritiker und der Sog uns anzupassen. Erlernte Scham, Sprachlosigkeit, Performance und Zurückhaltung haben uns nicht mehr im Griff.